Abreissen + Bauen Neudenken + Entwerfen

„Ich kenne keinen anderen, der so eine Chance bekommen hat“

19 Jahre lang führte Jan Gerchow das Historische Museum Frankfurt als Museumsdirektor. Zum 31. Juli verließ er das Haus und verabschiedete sich in den Ruhestand. In einem Gespräch mit Volontär Noah Nätscher (Museumskommunikation) reflektierte er noch einmal seine Zeit im HMF:

Sie waren 19 Jahre im Historischen Museum Frankfurt. Warum sind Sie so lange geblieben?

Es ist nicht so, dass es nicht auch Angebote oder Aufforderungen gegeben hätte, mich woanders zu bewerben. Aber hier liefen diese ganzen Bau- und Neukonzeptionsprojekte: Das ging 2007 los mit dem Caricatura-Umbau, dann der Altbau seit 2008 und der Neubau seit 2011 bis 2017. Und dann war er ja eröffnet. Dann wegzugehen, ist auch bescheuert, wenn man mal genießen kann, woran man so lange gearbeitet hat – und vielleicht auch ausbaden sollte, was man angezettelt hat. Frankfurt ist aber auch eine gute Stadt, gerade für ein Historisches Museum. Wir sind ein kommunales Museum einer Stadt, die nie Residenz war, allenfalls Hauptstadt ihrer selbst. Man hatte hier diese republikanische Perspektive. Das ist aus meiner Sicht ideal, um so ein Museum zu machen. Frankfurt war mir auch als Typ Stadt immer sehr nah, da habe ich mich sehr wohl gefühlt. Das war auch ein Grund, abgesehen von den tollen Chancen, die ich hier bekommen habe: So ein altes, großes Museum ganz neu zu denken, sowohl in der Hülle als auch von den Inhalten – ich kenne keinen anderen, der so eine Chance bekommen hat.

In welchen Momenten wurde Ihnen bewusst, dass das HMF in seiner Neukonzeption auf einem richtigen Weg ist?

In diesen Geschichtsthemen, in denen das Museum über die Stadt hinausgeht, gab es viele solche Momente. Da gab es einfach tolle Ausstellungen: „Die 68er – Kurzer Sommer, lange Wirkung“ in so einer Stadt der 68er, aber 40 Jahre nach 1968. Das haben wir mit der ganzen Stadt gemacht, mit vielen Kooperationspartnern. Das war schon ein toller Moment. Da wusste ich, dass das ein Museum ist, in dem man vielleicht von Frankfurt ausgeht, aber auch große Themen bespielen kann. So wie „Vergessen. Warum wir nicht alles erinnern“, aber auch „Frankfurt und der NS“. Das sind große Projekte, bei denen ich das Gefühl hatte, dass das gelungen ist. Und das Stadtlabor und das partizipative Museum sind ein Anknüpfen an eine Tradition hier in Frankfurt: an Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ und an partizipative Projekte in den 1980er Jahren. Das aber im Modus des 21. Jahrhunderts umzusetzen, ist schon ein Wagnis gewesen. Da war dieses erste Projekt im Mai 2011 in der Lindleystraße in einer nicht vermieteten Bürofläche im Osthafenviertel: „Ostend / Ostanfang“, die erste Ausstellung, die wir im Stadtlabor eröffnet haben – außerhalb des Museums. Das Museum wurde ja umgebaut und abgerissen. Das war ein Riesen-Experiment und es ist geglückt. Jetzt haben wir schon 17, 18 Stadtlabor-Ausstellungen gemacht und das Konzept weiterentwickelt. Aber dieses erste Projekt, das war schon sehr spannend und wirklich ein besonderer Moment.

Zwei Personen, links Jan Gerchow, laufen durch den Ausstellungsraum
historisches museum frankfurt: Jan Gerchow (links) bei der Eröffnung der Sonderausstellung „Die 68er“ im Jahr 2008, Foto: HMF
Besucher*innen betrachten Bilder in der Ausstellung "Ostend / Ostanfang".
historisches museum frankfurt: Die erste Stadtlabor-Ausstellung „Ostend / Ostanfang. Ein Stadtteil im Wandel“ 2011, Foto: HMF

Mit solchen Experimenten wird man sicher im Kulturbetrieb auch von allen Seiten ein wenig beäugt. Wie wurden Sie wahrgenommen auf diesem Weg?

Am Anfang noch gar nicht so stark, das hat sich erst in den 2010er Jahren entwickelt, dass so etwas Aufmerksamkeit erhielt. Innerhalb der Stadt wurden wir erst einmal komisch beäugt. Wir sind ja Teil der Stadtverwaltung und kümmern uns dann um Themen, die eigentlich dem Stadtplanungsamt gehören oder anderen Ämtern, die ihre Aufgabe in der Entwicklung der Stadt haben. Da haben wir des Öfteren auch sehr irritierte Rückmeldungen erhalten – aber davon haben wir uns nicht irritieren lassen. Von der Museumsszene kam erst einmal ein distanziertes Interesse. Diese Programmatik, die hinter dem Stadtlabor steht, ist ja eine Abkehr von der kuratierten Ausstellung. Und der Kurator war in den 00er-Jahren ein Leitbild für die Gesellschaft. Jeder CEO eines DAX-Konzerns war im Grunde Kurator seines Unternehmens. Und dann zu sagen: Zu viel Kuratieren im Museum ist nicht gut; es ist wichtig, dass viele Perspektiven eine Rolle spielen – das war erstmal komisch. Es hat ein bisschen gebraucht, bis das Aufmerksamkeit bekam. Wir haben diese Stadtlabor-Konzeption in den Museumsverbänden und in anderen Museen vorgestellt, auf deutscher Ebene, auf europäischer Ebene, international. Das hat eine sehr markante Aufmerksamkeit gebracht. Die Ausstellungen sind allerdings bis heute nicht die größten Publikumsbringer, das ist uns auch bewusst. Da kommen nicht 50.000 oder 100.000, wie das manchmal bei großen Sonderausstellungen geschieht. Das Stadtlabor ist eher etwas für 10.000 oder 12.000 Besucher, die sich intensiv mit der Stadt auseinandersetzen. Das sind oft Leute, die sich im Umfeld der Stadtlaboranten befinden. Aber das ist genau der Zweck, den wir damit angestrebt haben: Dass das Museum mehr Perspektiven aufnimmt und sich weiter vernetzt mit der Stadtgesellschaft und denjenigen, die die Stadt nutzen. Das hat funktioniert: Da sind wir als Museum von ganz anderen Leuten wahrgenommen worden als zuvor.

In 19 Jahren verändert sich nicht nur ein Leitbild, sondern auch die Arbeit als Museumsdirektor. Was sind die großen Veränderungen, die Sie miterlebt haben?

Das Museum ist ein bisschen gewachsen: Im Team waren wir etwa 34 oder 35, jetzt sind wir etwas über 40. Irgendwann war die Schwelle erreicht, an der man das nicht mehr alleine steuern kann. Am Anfang gab es natürlich Routinen jede Woche, aber keine festen Abteilungen. Dann wurde die kollaborative Führung wichtiger – nicht nur in Museen, sondern überhaupt. Das haben wir natürlich sehr ernst genommen. 2015/2016 haben wir ein Leitungsteam eingeführt und steuern das Museum seitdem in einer Gruppe mit fünf Leuten. Wir haben aber auch viel mehr Routinen und Treffpunkte, Austausch auf den Abteilungsebenen und Querschnittsgruppen. Das Ausstellungsprogramm, das wir durchführen, wird kollaborativ in einer Arbeitsgruppe diskutiert, entschieden und begleitet. Das ist heute weniger eine Sache, die auf eine Person zuläuft, als vielmehr etwas, das nur in Teamstrukturen funktioniert. Es wird nur dann gut, wenn man das Potenzial, das alle Mitarbeitenden haben, aktiviert, Verantwortung verteilt und Vertrauen schenkt. Ich glaube auch, dass das ein Stückweit mein Führungsprinzip ist: Wenn ich eine gute Idee sehe, von wem auch immer, schenke ich gerne das Vertrauen, dass das auch durchgeführt wird. Dann hat die Person das sozusagen „an der Backe“, aber sie kann das auch verwirklichen. Und meine Aufgabe ist es, das zu begleiten und nicht nur Leitplanken zu setzen, sondern auch Unterstützung zu geben, zu schauen, dass das in die richtige Richtung läuft, und die Ressourcen zu organisieren. Das ist eine viel wichtigere Rolle heute als in den 2000er Jahren, in denen der Museumsdirektor als Oberkurator gesehen wurde. Das hat sich geändert und das ist durchaus gut so.

Baustelle mit einem Kran, um den sich mehrere Menschen mit Bauhelmen versammelt haben.
historisches museum frankfurt: Im Dezember 2013 wurde der Grundstein für den Neubau des HMF gelegt, Foto: HMF

Wir haben viel über Erfolge gesprochen. Gibt es auch eine Vorstellung, die sich nicht erfüllt hat, eine Vision, an der Sie gescheitert sind?

Da gibt es mehrere Sachen. Es gibt dieses Thema der Sammlungsunterbringung. Seit dem Auszug und den Neubauten sind die Sammlungen überwiegend in Mietdepots. Die sind nicht unbedingt schlecht, wir haben ganz gute Rahmenbedingungen. Aber das ist nicht das, was es braucht, langfristig und nachhaltig. Darum habe ich mich mit den Kollegen hier am Museumsufer bemüht, um ein Zentraldepot auf den Weg zu bringen. Es ist auch auf den Weg gebracht worden, aber steckengeblieben. Dass das eine Niederlage ist, kann man jetzt nicht sagen, aber ich finde es schade. Und dann gibt es dieses Thema Caricatura. Die Caricatura war ein Arbeitsbereich des Museums, als ich kam. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass sie ein eigenes Haus kriegen und mich auch persönlich um den Bau gekümmert. Das war meine erste Bauerfahrung 2007/2008. Der damalige Leiter wollte aber unbedingt unabhängig werden und hat das 2019 durchgesetzt. Mein Beitrag war dann, dass die Caricatura aus dem Historischen Museum herausgelöst wurde und jetzt unter dem Kulturamt angesiedelt ist. Das funktioniert gut und von daher ist – das ist ja das Wichtigste – kein Schaden daraus entstanden. Aber so etwas kommt vor. Die Stadt ist auch ein politischer Raum, ein Medienraum, da kann sich auch mal etwas gegen einen wenden. Da habe ich noch Glück gehabt, weil ich mich nie persönlich oder in meiner Funktion auf Social Media betätigt habe. Es gibt Museumsdirektorinnen und -direktoren, die quasi als Influencer ihres Museums wirken und da natürlich auch viel bewirken können. Aber das ist, glaube ich, auch der richtige Moment, dass jetzt jemand anderes kommt. Es ist gut, wenn sich das ändert.

historisches museum frankfurt: Jan Gerchow vor seinem „Lieblingsort“ im HMF: der Fensternische in „Frankfurt Jetzt!“, Foto: HMF

Gibt es einen Tipp, den Sie an Ihre Nachfolge richten würden?

Dieses Team wertzuschätzen und weiterzuentwickeln. Das ist außer den 630.000 Objekten der größte Schatz, den das Museum hat. Diese Teamkultur weiter zu pflegen, das würde ich ihm oder ihr nahelegen – aber das bringt die Person vielleicht ja auch schon mit.

Und andersherum, würden Sie dem Team einen Tipp mitgeben?

Der neuen Person zu helfen und sich anzubieten – sie muss ja erstmal ankommen, in der Stadt und im Museum. Das habe ich selbst auch so erlebt, als ich ankam: Ich bin hier sehr offen und positiv aufgenommen worden. Das wünsche ich meiner Nachfolge auch.

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