Ein Praktikum in der Bibliothek der Generationen
von Lisa Heyder
Als ich ein Kind war, hat meine Oma oft darüber lamentiert, wie schnell die Zeit vergeht, ja wie sie rast. Ich habe das als Kind nicht verstanden, habe es als das Gerede einer alten Dame abgetan, deren Lebensrealität weit entfernt war von der meinigen. Heute denke ich oft über meine verstorbene Oma nach. Neben ihrem Biedermeierschrank in meinem Schlafzimmer sind mir vor allem meine Erinnerungen an sie geblieben. Und doch gibt es vieles, an das ich mich nicht mehr erinnern kann; so viele Geschichten, die ich nicht mehr wiedergeben kann; so viel Geschehenes, zu dem ich nie genauer nachgefragt habe. Meine Kinder werden meine Oma nie kennenlernen. Und ihre Geschichte wohl nie richtig erfahren. Für einige klingt das vielleicht trivial. Für mich ist es ein Teil meiner eigenen Geschichte, die damit verloren geht.
In der Bibliothek der Generationen geht es auch um das Erinnern. Genauer genommen um das Sammeln und Archivieren einzelner Geschichten und Biografien, die in ihrer Gesamtheit eine Art kollektives Gedächtnis abbilden. Vor meinem Praktikum im Historischen Museum Frankfurt hatte ich keine Berührungspunkte mit diesem von der Künstlerin Sigrid Sigurdsson konzipierten künstlerischen Erinnerungsprojekt. Die letzten Monate hatte ich das Privileg, die vielen Facetten der Bibliothek der Generationen (BdG) und ihre Inhalte genauer kennenzulernen.
Was ein bisschen an die Bücherwand im heimischen Wohnzimmer erinnert, bildet sprichwörtlich das Gerüst dieser Dauerausstellung. Ohne die obligatorischen Erinnerungsstücke aus vergangenen Urlauben oder die eingerahmten Familienfotos wirken die Regale auf den ersten Blick jedoch unpersönlich, verschlossen. Die mit dunkelblauem Stoff überzogenen Bücher und Kassetten gewähren keine Rückschlüsse auf die Personen und Geschichten, die sich darin befinden. Und doch sind genau diese Menschen und ihre Geschichten das Herzstück dieses Erinnerungsprojektes. Das Mosaik aus Portraitfotos an der gegenüberliegenden Wand verleiht dem Raum seinen menschlichen Bezug, indem es diejenigen abbildet, die sich für die Bibliothek der Generationen mit ihren eigenen Biografien intensiv auseinandergesetzt haben. Und um diese kennenzulernen, bedarf es vor allem eins: Zeit.
Bereits meine Oma fühlte sich mit der Flüchtigkeit der Zeit konfrontiert. Heute konkurriert neben allem, was die Zeit meiner Oma schon vor Jahrzehnten vereinnahmte, außerdem noch ein Smartphone um meine Aufmerksamkeit. Informationen, Eindrücke, Nachrichten gilt es, in Sekundenschnelle zu konsumieren und zu verarbeiten. Schnell liken und weiterscrollen. Da stellt sich mir die Frage: was davon bleibt? Diese Art von Konsum steht den Beiträgen der Autor_innen entgegen. Denn anders als eine Story auf Instagram lässt die Bibliothek der Generationen ein schnelles Vergessen ihrer Inhalte nicht zu. Sie enthält Berichte von Ereignissen, die wir so nie wieder erleben werden. Sie verwahrt Sammlungen von persönlichen Gegenständen, Dokumenten, und Briefen, die in ihrer Intimität überwältigend sein können. Vielleicht weil sie eine Art von Nähe und Offenheit zulassen, die ich von der Generation meiner Großeltern, ja sogar meiner Eltern, so nicht kenne und gleichzeitig so wichtig finde. Mir haben sie den Weg einer ganz persönlichen Verbindung zu dem Projekt geebnet.
So hat sich das Bild der Heiratsurkunde in der Kassette von Majer Szanckower unwiderruflich in mein Gedächtnis eingeprägt. Genauso wie die Nachbildung eines Briefkastens der Deutschen Post, die den Beitrag des Ehepaars Simeen und Ebrahim Modjaz beheimatet. Diese Objekte sind eng verwoben mit ihren persönlichen Geschichten, die wiederum Aufschluss über geschichtliche Ereignisse aus den Lebzeiten der jeweiligen Autor*innen und deren Zeitzeugenschaft erlauben. Die Mischung aus Sammlungsstücken und persönlichen Geschichten erweckt diese auf einzigartige Weise zum Leben – und steht somit in direktem Kontrast zu den Lehrmaterialien meiner Geschichtskurse. Sicherlich haben mir letztere eine Art standardisierte Wissensgrundlage zu geschichtlichen Geschehnissen vermittelt. Doch habe ich festgestellt, dass sich die Wirkung von Geschichte erst durch die Symbiose mit diesen ganz persönlichen Erzählungen frei entfalten, und Geschichte dadurch erlebbar, machen kann.
Als Offenes Archiv lädt die Bibliothek der Generationen zur persönlichen Auseinandersetzung mit den in ihr aufbewahrten Beiträgen ein. Dazu arbeitet das Team eng mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen zusammen, die interessierten Besucher_innen jeden Dienstagnachmittag die Werke der Autor*innen näherbringt. Ich war an einer Vielzahl von Dienstagen eine solche Besucherin. Für mich stellten die Stunden mit diesem engagierten Team eine ganz besondere Art an Austausch dar, haben sie doch die Beiträge oftmals nicht nur geschichtlich eingeordnet, sondern durch ihre eigenen Erfahrungen und persönlichen Anekdoten bereichert. Die Fülle an Wissen sowie die Leidenschaft, mit der das Team das Konzept der Bibliothek der Generationen vertritt, hat mich des Öfteren mit Demut erfüllt. Viele der Ehrenamtlichen sind auch als Autor*innen in der BdG vertreten. Dadurch kennen sie nicht nur andere Autor_innen persönlich, sondern sind auch eng vertraut mit den Themenschwerpunkten und Details vieler Beiträge. Diese waren dabei der Ausgangspunkt unserer Gespräche, die sich jedoch weit darüber hinaus entwickelten. Geschichte und Politik, Heimat und Zugehörigkeit, Familie und Gesundheit, all das waren Gesprächsthemen wunderbar anregender Unterhaltungen – Unterhaltungen deren Kurzweile mich jeden Dienstag aufs Neue zum Staunen gebracht hat. In diesen Momenten entwickelte ich ein ganz neues Verständnis für meine Oma und ihr Empfinden von Zeit.
Denn diese spielt im Konzept der Bibliothek der Generationen eine große Rolle, ist sie doch als Dauerausstellung für einen Zeitraum von über 100 Jahren angelegt. Die Wochen, in denen ich die Arbeit des Teams rund um die BdG unterstützen durfte, spielen dabei eine vernachlässigbar kleine Rolle. Und doch haben sie mir etwas gegeben, was meine Zeit dort überdauern wird: eine neue Perspektive auf das Thema Zeit und Geschichte, den Wunsch, mich intensiv mit meiner eigenen Geschichte zu beschäftigen und Erinnerungen, die ich in meinem Gedächtnis in einer blaubespannten Kassette sammeln, teilen und für die Ewigkeit aufbewahren möchte.

Ein wunderbarer Beitrag, der auf sehr eindrückliche und erlebbare Weise die Idee der Bibliothek der Generation vermittelt