Bis zum 5. April sollte die Stadtlabor-Ausstellung „Kein Leben von der Stange. Geschichten von Arbeit, Migration und Familie“ eigentlich laufen. Aufgrund der Corona-Pandemie war bereits am 14. März Schluss. Die Ausstellung war ganz abrupt zu Ende gegangen, ohne Finissage, ohne einen bewussten letzten Besuch. Für die Stadtlaborant*innen und mich war das ein jähes Ende!
Die Corona-Starre, in die das ganze Land verfallen war, hatte zumindest eine gute Seite: Die Ausstellungsdokumentation war in knapp drei Wochen geschrieben! Jetzt ist sie im Layout und wir sind schon sehr gespannt! Wir hoffen, dass wir die Doku nach den Sommerferien in einer öffentlichen Präsentation vorstellen können und so noch einmal zusammenkommen und unsere Erfahrungen mit der Ausstellung teilen können!
Einen kleinen Rückblick möchte ich aber schon jetzt wagen:
Das „Kleid für Frankfurt“ hatte sich schon sehr schnell zu einem der Publikumsmagneten der Ausstellung entwickelt! Fast immer wenn ich in die Ausstellung kam, saß jemand am Nähplatz und fügte dem Gewand ein Stoffstück hinzu. Manche nähten mit großen, schnellen Stichen, andere ganz akkurat und ein paar wenige verzierten die Stoffstücke auch mit Stickereien oder Applikationen. Von November bis März war das Kleid um rund fünf Meter gewachsen. Die Idee für das „Gewand für Frankfurt“ kam Sema Yilmazer und Sewastos Sampsounis, die das Patchwork-Gewand als Sinnbild für und Bekenntnis zur Diversität unserer Stadt in der Ausstellung platzieren wollten. Ein Bekenntnis, das die Besucher*innen offenbar auch gerne gegeben haben!
In unserer Ausstellung wollten wir – die Stadtlaborant*innen und wir Kurator*innen aus dem Museumsteam – darauf hinweisen, dass Migrationsgeschichte immer noch kein fester Bestandteil des deutschen kollektiven Gedächtnisses ist. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass Deutschsein heute anders, offener definiert werden muss und dass migrantische Geschichten schon längst fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft sind und daher auch in deutschen Erinnerungsinstitutionen repräsentiert sein müssen. Das gilt noch viel mehr für diejenigen, die schon in der zweiten, dritten, vierten oder sogar fünften Generationen hier leben! Obwohl ihre Familien seit Generationen in Deutschland leben, werden sie häufig nach ihren „Wurzeln“ gefragt, ober sollen erklären, woher sie kommen.
Über die Angemessenheit der Frage „Woher kommst Du?“ kam es in der Ausstellung häufig zu fruchtbaren und konstruktiven Gesprächen mit Besucher*innen. Sie betonten, dass sie damit nur ihr Interesse am Gegenüber ausdrücken wollten, das z.B. durch einen ausländischen Namen geweckt wurde, keineswegs wolle man jemanden verletzen. In den Gesprächen ist mir auch klar geworden, wie dünn und rutschig das Eis ist, auf dem wir uns hier alle gemeinsam bewegen: Auf der einen Seite die Kinder und Enkel von Migrant*innen, die es leid sind, erklären zu müssen, warum sie in Deutschland sind. Viele sind schon längst deutsche Staatsbürger*innen und möchten nicht aufgrund ihres Namens oder Aussehens immer wieder zu Fremden gemacht werden. Auf der anderen Seite steht der Wunsch der Fragenden, mehr über ihr Gegenüber zu erfahren. Viele Migrant*innen (oder sagen wir besser: Menschen mit Migrationsgeschichte) beklagen ja ein Desinteresse der Mehrheitsgesellschaft an ihren Erfahrungen. Was also soll an der Frage nach der Herkunft falsch sein? In den Gesprächen in der Ausstellung kam es immer wieder zu dieser Antwort: Die Frage selbst ist nicht falsch, nur vielleicht der Zeitpunkt, an dem sie gestellt wird. Denn niemand – egal ob mit oder ohne Migrationsgeschichte – legt gerne bei einem ersten Zusammentreffen die eigene Familiengeschichte offen.
Eine große Stärke der Ausstellung lag für mich gerade in der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Migrationsbiografie. Im Rahmen von Führungen fand diese Begegnung direkt statt. Es entspannen sich lebendige und fruchtbare Gespräche. Außerhalb der Führungen waren es die über 70 in der Ausstellung präsentierten „Geschichten von Migration, Arbeit und Familie“, die die große Bandbreite an Lebensgeschichten repräsentierten. Die Geschichten waren Teil der Installationen von Olcay Acet, Tamara Labas, Sema Yilmazer, Ibrahin Aydin, Sewastos Sampsounis, Peter Oehler, der Berliner Künstlergruppe bi’bak sowie den Frankfurter Geschichten, die durch das Museumsteam erarbeitet wurden. Durch die Audio- und Video-Installation, die Text-Collagen und Objekt-Assemblagen fanden vermittelte Begegnungen zwischen Besucher*innen und Frankfurter*innen mit Migrationsgeschichte statt.
Solche Begegnungen sind wichtiger denn je, die Morde von Hanau haben es uns deutlich vor Augen geführt. Der Attentäter hat diejenigen ermordert, die nicht seiner rassistisch geprägten Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ entsprachen. Der Historiker Jan Plamper bringt es im Titel seines wunderbar zu lesenden Buches auf den Punkt: Es ist an der Zeit, „Das neue Wir“ zu definieren, eine Vorstellung des „deutschen Volkes“, die sich nicht auf Herkunft gründet, sondern auf Staatsbürgerschaft. In diesem „neuen Wir“ sind alte und neue Deutsche eingeschlossen und Deutsche aller Herkunft und Couleur: Italo-Deutsche, Afro-Deutsche, Russland-Deutsche, Türkei-Deutsche, Irano-Deutsche, usw. Im Konzept des „neuen Wir“ teilen wir alle das Deutschsein und können gleichzeitig die verschiedenen kulturellen Hintergründe behalten. Wie schwierig es ist, „Deutsch-Sein“ inklusiv zu denken, zeigte sich auch an den Reaktionen auf die Morde von Hanau. Erst wurden die Ermordeten als „ausländische Mitbürger“ bezeichnet, dann als „Migrant*innen“, bis sich schließlich die Bezeichnungen „Deutsche mit ausländischen Wurzeln“ bzw. „Deutsche mit Migrationsgeschichte“ durchsetzten. Aus den vielfach unbeholfenen Reaktionen war deutlich herauszulesen, dass es immer noch an angemessenen Begriffen fehlt, mit denen unsere diverse Gesellschaft und ihre Mitglieder adäquat beschrieben werden können, denn viele der gängigen Begriffe sind ausschließend. Die Morde von Hanau zeigen überdeutlich, wie wichtig es ist, dass wir ein offeneres Konzept von Gesellschaft entwickeln, mehr und bessere Worte finden für „Das neue Wir“ (Jan Plamper), das wir schon längst sind – und das wir auch schon längst in Büchern, Filmen und Museen repräsentieren sollten.
Mit dem Stadtlabor „Kein Leben von der Stange“ haben wir einen kleinen Schritt auf dieses Ziel hin gemacht. Wir haben migrantische Geschichten sichtbar gemacht und sie als deutsche Geschichte erzählt. Für diejenigen mit eigener Migrationsbiografie war es schön, die eigene Geschichte im Museum zu finden. Für die ohne Migrationserfahrung war es wichtig, den Menschen über ihre Geschichten zu begegnen. Genau darin, in der Möglichkeit der mittelbaren und unmittelbaren Begegnung, liegt für mich das große Potential des Museums. Ein Ort, an dem Geschichten und Geschichte geteilt wird, an dem Begegnungen und Berührungen möglich sind. Jetzt müssen wir es schaffen, noch mehr Stimmen ins Museum zu holen, noch mehr Menschen und Lebenswege zu repräsentieren. Ich freue mich schon sehr auf das nächste Stadtlabor Ich sehe was, was Du nicht siehst, das meine Kolleginnen Puneh Henning, Ismahan Wayah und Susanne Gesser kuratieren und in dem es um Rassismus gehen wird.
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