Sammeln + Pflegen

571 Tüten – der zweite Teil

Sammlungszugänge sind manchmal umfangreich, doch selten kündigt eine Kuratorin den Zuwachs einer Sammlung um gleich mehrere Hundert Plastiktüten an. Nun denn, der Restaurator nimmt die Dinge wie sie kommen und stellt sich den Herausforderungen.

Objektliste der gescannten Tüten mit Fotos
historisches museum frankfurt: Gescannte Tüten aus dem Konvolut

Welche Herausforderungen? Bei Plastiktüten? Die Sicht von Privatmenschen auf Objekte ist oft eine andere, als die der Sammlungseinrichtung, also des Museums. Gerade im Kontext der Alltagskultur erreichen die Stücke den Sammler meistens direkt aus dem prallen Leben. Als Gebrauchsgegenstand werden sie hinsichtlich ihrer Erhaltung deshalb nicht unbedingt immer bestens behandelt. Und eine Plastiktüte ist bis hierher eben einfach eine Plastiktüte. Ein Massenprodukt, ein Werbeträger, ein billiger Gebrauchsgegenstand aus Kunststoff, der in den meisten Haushalten oft schon nach wenigen Nutzungen in den Müll geworfen wurde. Heute, fast zwei Jahre nach dem Ausgabeverbot von Plastiktüten für den Handel, werden die wenigen übrig Gebliebenen für spezielle Transportvorhaben fast schon gut gehütet. Eine private Sammlung begann früher nicht selten zusammengeknautscht im „Archiv unter der Spüle“. Mit wachsendem Umfang stieg der Platzbedarf, aber die flache und sortierte Lagerung im trockenen Keller war schon etwas besonderes.

Die Perspektive ändert sich schlagartig, wenn diese Gegenstände der Alltagskultur die Schwelle eines Museums übertreten. Das Museum sammelt, was für ein geschichtliches Ereignis oder einen Zeitraum repräsentativ ist. Da sich der Wert eines Objekts hier vor allem daran bemisst, welche Informationen mit ihm verbunden sind und wie diese zu Ausstellungsgeschichten verknüpft werden können, gilt es im Zuge der Inventarisierung das Maximale an Wissen zusammenzutragen, festzuhalten und über die Datenbank erschließbar zu machen. Und das sollte am besten zeitnah geschehen, bevor möglicherweise Informationsquellen versiegen. Der Zustand, in dem Sammlungsstücke ankommen, wird stabilisiert und konserviert. In Aufbereitung und Versorgung fließen neben einigen anfänglich zu investierenden Arbeitsstunden auch stets Kosten für qualitativ hochwertiges Verpackungsmaterial und – langfristig betrachtet – die Betriebskosten für das Depot. Nur wenn klar ist, welche Bedeutung, welche Funktion, welche Geschichte das Gesammelte hat, ist der Aufwand, den die Museen betreiben um ihre Sammlungen über Jahrhunderte zu bewahren, auch gerechtfertigt.

Im Fall des Konvoluts Plastiktüten aus Frankfurter Geschäften, das uns in einem ein wenig nach Keller duftenden Umzugskarton erreichte, ließ sich erfreulicherweise der Sammler dazu verpflichten, seine gestifteten Tüten selbst für das Museum zu inventarisieren. Die minimalen Anforderungen an die Objekterfassung sind die Vergabe einer Inventarnummer, die Angabe eines Titels oder einer Bezeichnung, die Ermittlung der Maße und des Materials sowie die Anfertigung eines Fotos. Darüber hinausgehende Beschreibungen des Aussehens und des Erhaltungszustands sowie der Herstellungstechnik sind erfreulich, aber bei großen Konvoluten längst nicht selbstverständlich. In Anbetracht der schieren Menge an Tüten dachte ich ursprünglich nicht, dass wir am Ende der Inventarisierung eine so dichte Informationslage zu diesen erzielen würden.

Zugegeben, anfangs wusste ich nicht einmal, wie viel es technologisch betrachtet über Plastiktüten zu sagen gab. Das änderte sich bald nach dem Lesen verschiedener Ausstellungskataloge und kulturgeschichtlicher Schriften zu Plastiktüten, zu ihrer Herstellung, dem Design und ihrer Nutzung. Vor uns sahen sich bereits andere Museen mit größeren Zugängen an Plastiktüten konfrontiert und hatten sich um konservatorisch geeignete Lösungen für eine optimale Aufbewahrung gekümmert. Dank eines unkomplizierten fachlichen Austauschs mit auf dem Tütengebiet kompetenten Vertreterinnen, Dr. Silvia Glaser des Germanischen Nationalmuseums und Monika Harter des Landesmuseums Württemberg, konnten wir die dort gewählten Lösungen zur eigenen Orientierung nutzen.

Mit der Fachliteratur öffnete sich regelrecht ein eigenes Universum der Plastiktüten. Hinsichtlich ihres Materials unterschieden sie sich nur wenig. Die meisten Tüten bestanden aus dem weichen und elastischen LDPE (low density Polyethylene), die eher festen, raschelnden aus HDPE (high density Polyethylene). Sie waren eingefärbt oder transparent, ein- oder mehrfarbig bedruckt. Betrachtete man aber die Form und Konfektionierung bot sich zur Beschreibung eine fast endlose Menge auszuwählender Charakteristika an. Es handelte sich also um eine Tüte mit Seitennaht respektive Bodennaht, mit einer eingelegten Falte, mit gestanztem Griffloch, angeschweißten Grifflaschen oder verschließbarem Griffsteg (Bügelgrifftasche), mit Regenklappe, eingeschlagenen Nieten oder Ösen, mit einem Tunnel und eingezogener Kordel, einen Hemdchenbeutel, eine Sinus-Tragetasche (mit geschwungener Oberkante), eine Reiterband- oder Doppelkrafttüte (auch: DKT). Ganz sicher gibt es da draußen Tüten-Nerds, die diese Aufzählung noch viel weiter fortsetzen könnten, aber uns genügte die Auswahl an Beschreibungen als Thesaurus für die Inventarisierung vollkommen.

Die für die Bearbeitung notwendigen Arbeitsschritte, die Betrachtung, Vermessung, Beschreibung, Dateneingabe und Ablage, mussten möglichst effizient strukturiert werden, damit der gesamte Vorgang bei vertretbarem Aufwand in einem überschaubaren Zeitraum abgeschlossen werden konnte. Für die am Ende des Prozesses stehende raumsparende Verpackung waren zunächst die Maße der Tüten entscheidend, also wurden sie zu Stapeln vor sortiert, die den Grundriss einer Kunststoffkiste möglichst gut ausfüllten. Innerhalb dieser Sortierung fassten wir anschließend Tüten mit weiteren Gemeinsamkeiten zusammen, wie etwa der Hemdchenform oder der aufgedruckten Abbildungen. Dies beschleunigte die Dateneingabe erheblich, da viele Informationen in den Feldern des vorangegangenen Datensatzes dem folgenden Objekt entsprachen und darum kopiert werden konnten, statt sie jeweils individuell eintragen zu müssen. Die bei der Bearbeitung vorgenommene Zuweisung eigener Inventarnummern (X.2023.013,001-571) entsprach aufgrund der Sortierung auch der Ablagefolge in der Aufbewahrungskiste. Auf diese Weise wurde das spätere Wiederfinden einer bestimmten Tüte in den nun immerhin auf drei Kisten verteilten 22 einzelnen Lagen wesentlich vereinfacht. Trotz der optimierten Vorgehensweise beanspruchte die Datenaufnahme satte 50 Stunden – ein Hoch auf die Ausdauer und das Engagement des Stifters Robert Stögbauer!

Zur Konfektionierung der Lagen verwendeten wir Zuschnitte aus säurefreiem Wellkarton. Auf diesen wurden Einfassungen aus Polyethylen-Schaumstoff so angebracht, dass die nebeneinander gelegten Stapel nicht verrutschen konnten und sie gleichzeitig als Abstandhalter und Auflagefläche für die darüber gestapelten Lagen dienten. Alle Tüten erhielten genug Raum, um langfristig Spuren durch Druck, Knicke oder Stauchung zu vermeiden. Aufgrund des guten Zustands der Tüten und der stabilen, nicht klebrigen Druckfarben wurde von weiteren Trennlagen zwischen den Tüten abgesehen. Übersichtslisten und Beschriftungen der Lagen erleichtern die Orientierung. Die Stapelhöhen umfassen meist nicht mehr als 20 Tüten, damit eine komfortable und schonende Arbeit mit dem Bestand möglich ist.  Die Behälter bestehen aus Polypropylen und sind in ihrer Größe für die Lagerung auf Euro-Paletten normiert. Alle Materialien erfüllen Museumsstandard, zeichnen sich durch gute Beständigkeit aus und sondern keine für die Tüten schädlichen Stoffe ab.

Aktuell werden alle Tüten mit unserem Hochleistungsscanner bildlich erfasst, sodass die auf den ersten Blick eher nüchtern wirkenden Datensätze auch ein Gesicht bekommen.

 

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