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Die Unvollendete

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ – dieser oft missverstandene Ausspruch des griechischen Philosophen Heraklit scheint sich auch bei der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland bewahrheitet zu haben: Am 12. November 1918, nur drei Tage nach Ende des Ersten Weltkriegs, erließ die sich „Rat der Volksbeauftragten“ nennende Übergangsregierung einen „Aufruf an das deutsche Volk“, in dem neben anderen revolutionären Ankündigungen das lange geforderte Wahlrecht für Frauen verkündet wurde. Wie die Kuratorin der Ausstellung Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht, Dorothee Linnemann, bei ihrer Führung für die Freunde und Förderer des HMF betonte, hatten die zahlreichen Frauenverbände ausgerechnet während der vier Kriegsjahre ihre Forderungen auf politische Mitbestimmung weitgehend aufgegeben. Die zunehmende Verantwortung von Frauen für die Organisation der „Heimatfront“ mündete aber angesichts des Zusammenbruchs am Kriegsende in der allgemeinen gesellschaftlichen Erkenntnis, dass der weitere Ausschluss der Hälfte der Bevölkerung an der politischen Mitsprache schlechterdings nicht mehr vertretbar war.

Tatsächlich konnten Frauen in Deutschland zum ersten Mal an der Wahl zur verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 teilnehmen und für diese Wahl kandidieren. Forderungen nach dem Wahlrecht für Frauen waren zwar von zahlreichen Frauenverbänden bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erhoben worden. Nun standen aber nur wenige Wochen bis zur tatsächlicher erstmaligen Ausübung dieses lange verwehrten Verfassungselements für die kandidierenden Parteien und die Frauenverbände zur Aufklärung und zur Mobilisierung der künftigen Wählerinnen zur Verfügung. Wie Dorothee Linnemann nicht ohne Ironie äußerte, sprangen jetzt auch Parteien und sogar konservative Frauenverbände auf den Zug, die zuvor gegen die politische Mitbestimmung von Frauen waren. Zu den heute kaum vorstellbaren Mitteln der damaligen Wahlwerbung gehörten Schallplatten, auf denen sich interessierte Frauen die Reden der Kandidatinnen noch einmal anhören konnten. Ebenfalls kaum glaubhaft dürfte uns heute das Ausmaß der weiblichen Wahlbeteiligung aus dem Jahre 1919 sein, die bei rund 85 Prozent lag.

Dass Frauen nun wählen und gewählt werden konnten, bedeute noch nicht gleichzeitig die volle Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Zwar war dieser Grundsatz Bestandteil der Weimarer Verfassung und wurde im Grundgesetz von 1949 sogar zu Artikel 3. Aber Papier, auch in Form von Verfassungsurkunden, ist geduldig: Wie die Ausstellung dokumentiert, kam es in der Weimarer Republik nicht zur praktischen Verwirklichung des in der Verfassung garantierten Gleichheitsgrundsatzes in der Gesetzgebung. In der der Zeit des Nationalsozialismus war daran angesichts des damals geltenden rückwärtsgewandten Frauenbilds innerhalb der „Volksgemeinschaft“ ohnehin nicht zu denken. Erst 1957, also viele Jahre nach der Konstituierung des Grundgesetztes, an dessen Formulierung gerade mal vier Frauen aus unterschiedlichen politischen Lagern mitgewirkt hatten, raffte sich der Bonner Gesetzgeber auf, Vorschriften des BGB von uns heute mittelalterlich erscheinenden Vorschriften – wie beispielsweise die notwendige Zustimmung von Ehemännern zu von ihren Ehefrauen geschlossenen Verträgen – zu entschlacken. Das am Ende der Ausstellung aufgebaute „Politik-Labor“ erschließt den langen Prozess der politischen Gleichberechtigung und Gleichstellung bis in die Gegenwart. Dass beide Grundsätze nach der Meinung der Ausstellungsbesucherinnen und -besucher noch unvollendet sind, zeigen ihre handschriftlichen Eintragungen auf der die eindrucksvolle Ausstellung beschließenden Pinnwand.

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