Sammeln + Pflegen

Gefährdete Idylle

Ein Grundgedanke der Bibliothek der Generationen ist die Abbildung der Lebenswirklichkeit in Frankfurt sowie deren Veränderung im Zeitablauf. Zur Vorstellung von dieser Stadt gehören Bankhochhäuser, das Museumsufer, die Kleinmarkthalle, der Rotlichtdistrikt und die preisgekrönte Oper. Eine gerne übersehene Lebenswelt ist der Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße, der lange despektierlich als „Zigeunerlager“ bezeichnet worden war. Es ist das Verdienst der Soziologin und Sozialarbeiterin Sonja Keil, diesen einzigartigen Kosmos im Frankfurter Norden näher untersucht zu haben. Seit 2012 kümmert sie sich im Auftrag des Diakonischen Werks um die dort wohnenden Familien. Zusammen mit den Bewohnern entwickelte sie das Projekt „Der eigenen Geschichte auf die Spur“. Die Ergebnisse des Projekts gehen in die Bibliothek der Generationen ein. Am 10. April stellte Sonja Keil zusammen mit Adi Fletterer, einem in dritter Generation dort lebenden Bewohner, den neuen Beitrag über die so andere Welt auf dem „Platz“ vor.

drei personen sitzen in auf Stühlen

Das jetzt fast idyllisch wie eine Schrebergartenanlage anmutende Wohngebiet war 1953 als Abstellplatz für Wohnwagen eingerichtet worden, die zuvor in der ganzen Stadt verteilt waren. Die Ausstattung war sehr dürftig: Kein Strom, Trinkwasser an zwei Hydranten. Doch die Schausteller, Altmetallhändler und Zirkusleute – in der Amtssprache „ambulante Gewerbetreibende“ – nahmen die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse in die eigenen Hände: Heute stehen auf dem Platz selbst gezimmerte kleine Eigenheime. Adi Fletterer wohnt mit seiner Familie in miteinander verbundenen Containern, den er sich wohnlich eingerichtet hat. Container sind flexibel – auf diese Weise kann die Wohnung immer den jeweiligen Bedürfnissen der Familie angepasst werden. Seine Frau entstammt einer Zirkusfamilie. Jahrelang zogen die Fletterers mit einem Schulzirkus von Ort zu Ort, übten mit den dortigen Kindern kleine Kunststückchen ein, um sie danach deren stolzen Eltern vorzuführen. Ein weiteres finanzielles Standbein besitzt Adi Fletterer in der Metallverwertung. Zusammen mit Kollegen baute er Kesselanlagen der Brauerei Henninger ab und sammelte im Auftrag der Stadt herrenlose Wasch- und Spülmaschinen ein, bevor diese Form der Abfallentsorgung durch die stadteigene Gesellschaft FES übernommen wurde. Diese Professionalisierung entzieht allerdings denjenigen Bewohnern der Bonameser Straße zunehmend die Existenzgrundlage, die noch als Altmetallsammler unterwegs sind.

schwarz-weiß-Zeichnung der Wohnwagen

Was die rechtliche Situation der kleinen Siedlung mit derzeit 80 Bewohnerinnen und Bewohnern betrifft – weit über 1000 Personen sollen früher dort gelebt haben – so herrscht wohl eine Art Schwebezustand. Die Wohnheim GmbH, eine Tochter der stadteigenen AGB Holding, hat eine Zuzugssperre für das Gelände verhängt. Wenn alte Parzellen durch Wegzug oder Tod aufgegeben werden, bleiben sie leer. Damit ist zumindest der Status quo gesichert. Dabei war die Kommunalpolitik gegenüber dem „fahrenden Volk“ nicht immer konsequent: In Zeiten der Wohnungsknappheit nach dem 2. Weltkrieg wurden diesem Personenkreis feste Wohnungen mit dem Argument verwehrt, sie seien ja mindestens sechs Monate im Jahr unterwegs und könnten deswegen keinen Anspruch auf eine dauerhafte Bleibe stellen.

Als  Angela Jannelli, die Kuratorin der Bibliothek der Generationen, Adi Fletterer die Frage stellte, was denn der Grund sei, dass er mit keinem Wohnungsinhaber tauschen wolle, antwortete er: „Die Freiheit und der Zusammenhalt. Ich kenne alle auf dem Platz, hier hilft jeder jedem“ Einen Unterschied zur nachbarlichen Unterstützung in konventionellen Wohneinheiten scheint es auch hier zu geben, denn, so Fletterer: „Ich helfe auch denjenigen, die ich nicht leiden kann.“

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