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Zeitzeugenschaft in „interessanten Zeiten“ – Mitmachen beim Erinnerungslabor!

“May you live in interesting times!” – “Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ Dieser oft als „chinesischer Fluch“[1] bezeichnete Ausspruch scheint sich geradewegs auf unsere Gegenwart zu beziehen. „Interessant“ sind unsere Zeiten in jedem Fall und das ist in vielerlei Hinsicht nichts Gutes. Eine Krise jagt die nächste: Inflation, Kriege, Pandemie, Klimakrise, politische Umbrüche, gesellschaftliche Polarisierung. Und wir alle erleben sie mit – je nach gesellschaftlicher Verortung und je nach Krise in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Deutungsmustern. Wenn man uns in 30 oder 50 Jahren über dieses Jahrzehnt befragen würde, hätten wir sicher alle etwas darüber zu erzählen, natürlich auch Positives. Blickwinkel und Prioritätensetzungen wären dabei ganz unterschiedlich.

Macht uns das nun alle zu Zeitzeug*innen dieser Zeit? Oder braucht es dazu einen bestimmten Blickwinkel? Eine bestimmte Intensität des Erlebens? Was würde uns motivieren in einer solchen Rolle zu sprechen? Und welche Aspekte aus unserem Erleben erachten wir als wichtig für die Zukunft?

Menschen sitzen in Gruppen an Tischen vor der Bibliothek der Generationen
historisches museum frankfurt: Beim ersten Informationstag konnten Interessierte 10 Beiträge kennenlernen, die von den Autor*innen selbst oder Ehrenamtlichen vorgestellt wurden. Foto: HMF.

Mit diesen Fragen darüber, was „Zeitzeugenschaft“ eigentlich ausmacht, setzen wir uns im derzeit anlaufenden Erinnerungslabor auseinander. Erinnerungslabor bedeutet: Das Stadtlabor trifft auf die Bibliothek der Generationen. In einem partizipativen Prozess wird in einer festen Gruppe eine Ausstellung erarbeitet, diesmal mit dem Fokus auf Erinnerung.

Die Bibliothek der Generationen (BdG) ist ein künstlerisches Erinnerungsprojekt, das im Jahr 2000 von Sigrid Sigurdsson initiiert wurde. Damit haben wir im Historischen Museum Frankfurt ein Archiv von Erinnerungen und Erzählungen ganz unterschiedlicher Menschen an ganz unterschiedliche Zeiten und Themen. Was sie eint, ist einerseits der (teilweise sehr lose) Bezug zu Frankfurt, andererseits der Wunsch, ihre Erinnerungen und Erzählungen, oft auch in Form von Fotos, Dokumenten und Objekten, zu bewahren und weiterzugeben. Da ist Asal Khosravi, die während des Iran-Irak-Kriegs in Teheran aufwuchs und heute als Künstlerin in Frankfurt arbeitet. Da ist Maria Frisé, die als Kind aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertrieben wurde und sich bei der FAZ als eine der ersten Frauen einen Namen als kluge Feuilletonistin machte. Da ist Edgar Sarton-Saretzki, dessen Vater, Nathan Saretzki, der letzte Oberkantor der 1938 durch die Nazis zerstörten Börneplatz-Synagoge war. Da ist Sibylla Flügge, die die 68er-Revolte und die Zweite Frauenbewegung in Frankfurt miterlebte. Da ist Majer Szanckower, Verwalter der jüdischen Friedhöfe in Frankfurt, der nicht nur vom Tod, sondern auch vom jüdischen Leben in Frankfurt nach 1945 erzählt.

In und neben einer Archivkassette liegen selbst gefertigte Bücher. Eines davon ist auf der Seite eines Bleistift-Porträts aufgeschlagen.
historisches museum frankfurt: Asal Khosravis Beitrag ist künstlerisch gestaltet. Foto: HMF.

Sie alle erzählen aus „interessanten Zeiten“. Aus jeder Zeit, aus jedem Jahrzehnt gibt es etwas „Interessantes“ – im positiven wie im negativen Sinne – zu erinnern und zu erzählen. Doch sind die in der BdG Vertretenen nun Zeitzeug*innen? Ab wann „zeugen“ wir von einer Zeit? Was bedeutet es Zeitzeug*in zu sein? Wie wird man Zeitzeug*in?

Unser heutiges Bild vom „Zeitzeugen“ oder von Zeitzeugenschaft ist stark durch die Erinnerung an den Nationalsozialismus geprägt. Wenn von „Zeitzeug*innen“ gesprochen wird, entsteht nach wie vor schnell die Assoziation zu Videointerviews mit Shoah-Überlebenden. Aber ist mit Zeitzeugenschaft immer die Erinnerung an und die Erzählung über die Zeit des Nationalsozialismus gemeint? Insbesondere die Erinnerung (jüdischer) Überlebender an die nationalsozialistischen Verbrechen? In den letzten Jahren wurde der Begriff des „Zeitzeugen“, auch viel auf andere Zeiten und Phänomene übertragen: Es gibt nun Zeitzeug*innen der DDR, der 68er-Revolte, der Geschichte der sogenannten „Gastarbeiter“. Das Internet ist voll von digitalen Archiven mit Zeitzeugen-Interviews zu unterschiedlichen thematischen oder zeitlichen Schwerpunkten oder aber zur Geschichte eines bestimmten Ortes, etwa einer Stadt. Auch die Bibliothek der Generationen hat einen Fokus auf einen bestimmten Ort, auf die Stadt Frankfurt. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es weder eine klassische Bibliothek noch ein klassisches Archiv ist. Wir haben hier nicht nur eine Sammlung von Schriften oder von (Video-)Interviews, sondern individuell befüllte Schachteln mit allem, was die jeweiligen Personen für wichtig erachteten, um ihre Geschichte in die Zukunft hinein zu erzählen.

In und neben einer Archivkassette liegen Objekte und Dokumente.
historisches museum frankfurt: Der Beitrag von Majer Szanckower enthält neben vielen originalen Dokumenten auch eine Gebetstafel. Foto: HMF.

Der Begriff der Zeitzeugenschaft hat eine inhaltliche und zeitliche Öffnung erfahren. Er scheint universell etwas anzusprechen, das uns hilft, die Erinnerung an eine bestimmte Zeit aufzurufen. In wortwörtlichem Sinne sind wir ja auch die „Zeug*innen“ einer bestimmten Zeit. Ist es daher sinnvoll, diesen Begriff für die Erinnerungsarbeit universell zu verwenden? Auch das ist eine Frage, die wir uns im Erinnerungslabor stellen werden.

Außerdem fragen wir uns als Kurator*innenteam, wie wir es ermöglichen können, dass ein solches Erinnerungsprojekt unsere stark durch Migration geprägte Stadtgesellschaft besser widerspiegeln kann. Die Erinnerungskultur in Frankfurt soll schließlich nicht nur durch einen geringen Teil der Gesellschaft gestaltet werden, sondern möglichst viele sollen ihren Platz darin finden und sich und ihren Geschichten Gehör verschaffen können. Die BdG ist bereits ein Projekt, das einen Blick auf die Stadt aus vielen Blickwinkeln ermöglicht, aber auch hier sind migrantische wie auch nicht-akademische Perspektiven im Verhältnis zur Stadtgesellschaft noch unterrepräsentiert. Wir freuen uns deshalb insbesondere, wenn Menschen mit Migrationserfahrung und Menschen ohne Universitätserfahrung Lust haben, sich auf dieses Experiment einzulassen, in dem es auch darum geht, gemeinsam zu überlegen, wie die Erinnerung an Vergangenheit und Gegenwart mehr Perspektiven einschließen kann.

Aktuell gibt es die Möglichkeit, unverbindlich in das Projekt reinzuschnuppern, die BdG kennenzulernen und mehr über die Idee hinter dem Erinnerungslabor zu erfahren. Das Kennenlernen der BdG ist Grundvoraussetzung, um am Erinnerungslabor teilzunehmen, da der Prozess hin zur Ausstellung in zwei Schritten ablaufen wird: Zuerst geht es darum, anhand eines Beitrags in der BdG zu überlegen, was aus dieser erzählten Vergangenheit wichtig ist für unsere Gegenwart und warum. Ausgehend davon kann sich jede*r dann ganz persönlich die Frage stellen: Was aus meiner gelebten Gegenwart ist wichtig für die Zukunft zu erzählen?

Drei Menschen sitzen an einem Tisch. Die männliche Person hat eine geöffnete Mappe vor sich.
historisches museum frankfurt: Thomas Ferber zeigt interessierten Besucherinnen seinen Beitrag für die Bibliothek der Generationen. Foto: HMF

Darüber, wie genau die Ausstellung des Erinnerungslabors am Ende aussehen wird, können wir – wie immer beim Stadtlabor – noch nichts sagen. Das hängt davon ab, wer sich wie beteiligt. Wir hoffen auf unterschiedliche Themen und Perspektiven, die bereits erzählte und gehörte Geschichten in vielerlei Hinsicht durch neue, bisher ungehörte Aspekte ergänzen. Und wir sind sicher, dass viele Erzählungen aus und Erinnerungen an „interessante Zeiten“ dabei sein werden – sowohl aus der Vergangenheit als auch aus unserer Gegenwart.

Ein weiterer Termin zum Kennenlernen der BdG ist am 29.11.2023, 16 bis 19 Uhr. Bitte melden Sie sich bei Interesse mit einer kurzen E-Mail an stadtlabor@historischesmuseumfrankfurt.de oder über das Formular auf der Website an:| Historisches Museum Frankfurt (historisches-museum-frankfurt.de)

 

[1] Die tatsächliche Herkunft des Ausspruchs ist ungeklärt. Eine wortwörtliche chinesische Quelle konnte bis heute nicht ausgemacht werden. Vermutlich stammt er aus dem englischsprachigen Raum und wurde unter anderem durch Austen Chamberlain und Robert Kennedy verbreitet. The saying ‚May you live in interesting times‘ – meaning and origin. (phrases.org.uk)

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