Neudenken + Entwerfen

Wollen wir einen Shitstorm sammeln?

Ein Beitrag von Marlies Weileder und Franziska Mucha

Sollen wir Social Media Posts für die Zukunft bewahren? Sind digitale Corona-Erinnerungen Sammlungsobjekte? Und was passiert, wenn wir Stories versuchen zu dokumentieren? Gedächtnisinstitutionen wie Museen, Archive und Bibliotheken arbeiten daran, die Gegenwart für zukünftige Generationen zu dokumentieren und anhand von Objekten zugänglich zu machen. In einer Gegenwart, in der wir alle ständig digitale Medien produzieren und online weiterteilen, sind wir mit einer neuen Objektkategorie konfrontiert: nativ digitale Objekte, die von vielen verschiedenen User*innen produziert wurden. Nativ digital oder „born digital“ bedeutet, dass diese Objekte keine physische Entsprechung haben, es handelt sich nicht um ein Foto von einem Ding, sondern die Daten selbst werden als originäres Objekt verstanden. Werden sie beispielsweise in sozialen Netzwerken veröffentlicht, ist das Objekt zudem nicht abgeschlossen, sondern lebt durch Kommentare, Likes und Reposts weiter. Spätestens hier wird die Sammlungslogik mächtig auf den Kopf gestellt und es wird spannend!

Im September 2022 haben wir uns mit etwa zwanzig Kolleg*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz online zusammengesetzt und Erfahrungen ausgetauscht. Spätestens mit der Corona Pandemie und den Lockdowns ist das Thema ein Dauerbrenner in vielen Häusern geworden, darum wollten wir wissen: wie ist der Status Quo?

Im Blogpost versuchen wir eine Zusammenfassung und können jetzt schon sagen: die Fragen überwiegen noch. Vor allem in den Bereichen konservatorische und juristische Praxis werden wir erst in den nächsten Austauschtreffen tiefer einsteigen. Diesmal ging es erst einmal darum, das Feld aufzumachen und sich kennenzulernen.

Wer arbeitet eigentlich an dem Thema?

Als erstes hatte uns interessiert: in welchem Fachbereich arbeiten die Kolleg*innen, die sich mit digitalen Objekten beschäftigen? In der schnellen Umfrage hat sich eine ziemlich gleichmäßige Verteilung gezeigt:

in verschiedenen bubbles wird sichtbar, dass die Teilnehmenden in ganz unterschiedlichen Bereichen arbeiten: Digitales/Technik, Dokumentation/Archiv, Sammlung/Kuration, Vermittlung/Partizipation, Forschung/Wissenschaft.
Ergebnisse der Blitzumfrage unter den Teilnehmer*innen.

Und damit auch mal wieder bestätigt, dass Digitalität ein Querschnittsthema ist, das alle angeht. Darüber hinaus waren beim Treffen vor allem kulturhistorische Museen beteiligt und wir hoffen beim nächsten Treffen Kolleg*innen aus dem Bereich Archiv und Bibliothek zu erreichen, da wir dort bereits viel Expertise und Erfahrung vermuten.

Was sind das für Objekte?

Die nächste Frage, die wir im Treffen an die Runde gestellt haben, war die Frage, mit was wir es eigentlich zu tun haben. Wenn wir über digitale Objekte sprechen, was meinen wir damit? Zu wissen, mit welchen Begriffen Andere arbeiten ist für die Zusammenarbeit natürlich von Vorteil. Aber vor allem kann es uns helfen neue digitale Objekttypen und die Arbeit damit zu verstehen. Bei einer spontanen Umfrage mit allen Teilnehmer*innen zeigte sich genau diese Bandbreite an Begriffen.

Eine Textwolke mit verschiedenen Begriffen wie nativ digitale Objekte, oral history, stories, immaterielles Kulturerbe.
Die Wortwolke zeigt, dass wir ganz unterschiedliche Begriffe nutzen.

Der Begriff „nativ digitale Objekte“ weist nur auf ihre digitale Verfasstheit hin, was uns aber eigentlich interessiert, sind die grundlegenden Fragen zum Umgang mit dieser neuen Objektkategorie. „Oral History“ dagegen ist nicht spezifisch für digitale Objekte. Hier geht eher darum, dass mündliche Überlieferungen, Erinnerungen und biografische Inhalte dokumentiert werden – das Medium in dem die Geschichte festgehalten wird, steht dabei im Hintergrund. Der Begriff „Immaterielles Kulturerbe“ beschreibt vor allem traditionelle kulturelle Praktiken und das darin enthaltene Körperwissen, auch hier fehlt ein expliziter Bezug zum Digitalen. Trotzdem sind die Inhalte vieler nativ digitaler Objekte mit diesen Begriffen beschreibbar, denn es handelt sich in vielen Fällen um persönliche Stories und Kommentare, Dokumentationen von alltäglichen Praktiken, die mit digitalen Medien festgehalten wurden. Also statt sich weiter mit der Definitionsfrage aufzuhalten, sind wir schnell in Diskussionen eingestiegen, die die Verfasstheit des Wissens in digitalen Objekten und den verwalterischen Umgang damit betrafen, oder wir Muhanna das ausdrückt:

“What does born digital mean? […] It gives us something new. If it is difficult to put our finger on what that new something is, so the argument goes, that is because we are beholden to analogue ways of thinking about our research objects. This is the sense of born digital that interests me, which is as much an epistemological problem as it is an administrative one.” (Muhanna, 2018: 111)

Nativ digitale Objekte, die von Nutzer*innen weitergeschrieben werden, haben kein eindeutig abgrenzbares Ende. Das ist wirft einerseits praktische Probleme auf, die Tabea Schmidt (Folkwang Universität der Künste Essen) in ihrer Promotionsarbeit auf die Frage zuspitzt: Wo fängt ein (nativ) digitales Objekt an und wo hört es auf?

Auf der anderen Seite bietet diese dialogische Verlängerung, die Möglichkeit den fehlenden Kontext von kolonial gesammelten Objekte zu ergänzen, wie Etta Grotrian (Übersee-Museum Bremen) im Projekt Oceania Digital aufzeigt.

Was haben Nutzer*innen damit zu tun?

In vielen Institutionen war die Pandemie ein Anstoß, die digitale Beteiligung auszuweiten und neuzudenken. In der Diskussion wurde die soziale Funktion des Museums deutlich, in dem Sinne, dass ein partizipativer Aufruf erstmal ein Gesprächsangebot und eine Plattform zum Austausch eröffnet. Was davon bleibt und in der Sammlung für die Zukunft bewahrt werden soll, hängt auch davon ab, wie der Dialog verläuft. Und in manchen Fällen ist vielleicht der Prozess das primäre Ziel.

Mit kleinen Zeichnungen und Textblöcken sind verschiedene Bereiche der Diskussion skizziert: Das Problem ethnologischer Sammlungen, Rapid Response Collecting, die Spannung zwischen Partizipation und Sammlung, Verwaltungsfragen und Zuständigkeiten.
Visuelle Darstellung des Diskussionsverlaufs. Zeichnung: CC BY-SA Franziska Mucha

Im Stadtlabor Digital des HMF ist beispielsweise eine solche Rapid Response Sammlung zu den Erfahrungen mit Corona in Frankfurt zusammengekommen. Sie zielt erst nachranging auf das Sammeln ab und hat an erster Stelle einen Reflexionsraum eröffnet, in dem Nutzer*innen ihre Perspektive auf den Ausnahmezustand teilen können. Welche dieser vielen Beiträge in die Sammlungen des HMF übernommen werden, wird sich erst nach und nach zeigen. Aber auch für diesen kuratorischen Auswahl-Prozess ist eine Beteiligung der Öffentlichkeit angedacht.

Ganz ähnlich ist auch die Herangehensweise, die Stefan Benedik (Haus der Geschichte Österreich) vorstellt – die junge Institution hat von Anfang an „user-generated content“ zentral mit anderen Objekten ausgestellt und sammelt diese mit offenen Calls. Die langfristige Sammlung dieser Objekte wird jedoch nachrangig behandelt und Nutzer*innen können der Institution die Rechte an den Beiträgen auch im Nachhinein wieder entziehen.

Für diese Art der Projekte geben die Grundlagen partizipativer Museumsarbeit wichtige Prinzipien vor, wie auch Rebecca Etter (Alpines Museum Schweiz) anhand des Fundbüro Projekts bestätigte.

Und dann? Wie wird das umgesetzt? Rechtliche, konservatorische und Verwaltungsfragen tbc…

In der Diskussion kamen wir schnell an Fragen, die wir mit juristischer und konservatorischer Expertise gerne in weiteren Runden bearbeiten möchten. Beispielweise, wie der Wert von digitalen Objekte bemessen werden kann? Eine wichtige Frage aus Sicht der Sammlungsverwaltung, die Sophie Wagner (Stadtmuseum München) einbrachte. Hier schlug Nina Gorgus (HMF) einen Seitenblick und Lernen von dem Sammlungsbereich der Alltagskultur vor: hier steht oft der persönliche Wert und Geschichte im Vordergrund und macht ein Objekt sammlungswürdig.

In den nächsten Treffen (das nächste findet übrigens Anfang Dezember statt und wir freuen uns auf weitere Interessierte, gerne per Mail oder als Kommentar unten melden!) werden wir an diesen Fragen weiterarbeiten. Denn über den Punkt ob wir sammeln oder nicht, sind wir hinaus.

Die heutige Alltagskultur ist stark von Digitalität geprägt. Der digitale Raum ist ein Ort der politischen und gesellschaftlichen Partizipation und wie Stefan Reichert (Haus der Geschichte Baden-Württemberg) zuspitzte: „Wenn wir auf Social Media aktiv sind und Fragen stellen, sollten wir auch an den Antworten interessiert sein.“

Literatur und Links

Abstract

Should we preserve social media posts for the future? Are digital documentations and memories of the pandemic objects to be collected? What happens when we try to capture social media stories? We discussed these and many other questions in a (virtual) open meeting with colleagues from Museums in Germany, Austria and Switzerland. In a day and age in which we are confronted with, produce, and communicate through digital media every day, heritage institutions are faced with a new object category: born digital objects.

“New” in terms of challenging longstanding epistemological and administrative approaches to collecting (Muhanna, 2018:111). However, the knowledge exchange with colleagues also pointed to similarities with existing practices of collecting, e.g. within the field of oral history or every day culture.

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